Zanrelot gibt es auf, Jonas Anfeindungen zu parieren. Es hat ja doch keinen Sinn, Jona WILL ihn nicht verstehen. Natürlich könnte Zanrelot ihm noch einiges über die damalige Zeit und über sich selbst erzählen. Etwa, dass ihm seine Rache nicht wichtiger war, als seine kleine Familie, sondern gerade wegen der Familie wichtig. Dass er Jona unter besseren Umständen aufwachsen sehen wollte, politisch wie persönlich. Oder dass er sich nicht einfach so von der Magie hätte abwenden können, da er bereits ein halber Dämon war und zudem, ganz nebenbei, nichts anderes gelernt hatte. Er zieht es vor, zu all den ungerechten Vorwürfen zu schweigen.
Und dann passiert die Sache mit Matreus. Nun haben sich jegliche Streitgespräche ohnehin erledigt, denn wenigstens darin sind sich die beiden einig: Sie müssen Matreus finden, bevor er sich, aufgewühlt, wie er ist, irgendwie in Gefahr bringt.
Es dauert nicht lange, bis sie eine Spur finden, und die deutet leider auf nichts Gutes hin. Jona entdeckt, nahe bei Sarahs Haus und den spielenden Kindern, einen Mann, der Matreus' Zauberstab in der Hand hält. Zanrelot dreht sich der Magen um, als er das Gewand und die Rüstung des Mannes sieht: ein Scherge des Herzogs! Nie im Leben, wie viele hundert oder tausend Jahre es noch dauern mag, wird Zanrelot diesen Anblick vergessen können. Seither hegt er einen allgemeinen Abscheu vor Uniformen. Mit schreckgeweiteten Augen wechselt er einen Blick mit Jona, und darin liegt eine solche Panik, wie Jona sie sicher noch nie bei seinem Vater gesehen hat.
Zanrelot reißt sich zusammen, um bei klarem Verstand zu bleiben. Aus seinem Versteck heraus späht er um die Ecke und sieht weitere Männer des Herzogs, die Matreus als Gefangenen mit sich führen. Er versucht, einen grünen Strahl aus seiner Handfläche auf sie abzufeuern, doch seine magischen Kräfte lassen ihn im Stich. "Verflucht!" flüstert er seinem Sohn zu, "die Zeitreise hat zu viel Energie gekostet!" Wenn er nur an Matreus' Zauberstab herankäme! Mit dem als Magieverstärker müsste es gehen. Doch der ist unerreichbar. Wenn Jona nur etwas gelernt hätte und jetzt aushelfen könnte! Doch er hat so gut wie gar kein magisches Potential, bzw. weiß es nicht zu nutzen. Die Lage ist hoffnungslos. Vorerst können sie nichts anderes tun, als den Männern hinterherzuschleichen, um zu sehen, wohin sie Matreus schleppen.
Sehr bald ist klar, wohin. Zanrelot hat es sich ja denken können, aber er hat wider alle Vernunft versucht, etwas anderes zu hoffen. Matreus landet unweigerlich im Kerker des Herzogs, nahe dem Markt, wo noch Tante Gundulas Scheiterhaufen raucht. Hier sind die Todeszellen für alle, die Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wulfenbüttel bei lebendigem Leibe öffentlich verbrennen lässt. Noch darunter befindet sich auch eine Folterkammer, die der Herzog eigentlich gern verwendet, doch in letzter Zeit hält er sich meist gar nicht mehr damit auf, Geständnisse zu erpressen. Wer seiner Meinung nach ein Magier oder Ketzer ist, wird ohne Umstände dem Feuer übergeben. In Wahrheit geht es ihm mehr darum, politische Gegner auszurotten, als auf Hexenjagd zu gehen. Einen Hofmagier hält er sich schließlich selbst, mit dem Segen der Kirche. Der nennt sich natürlich "Weißer Magier" und hilft eifrig mit, seine "schwarzen" Kollegen aufzuspüren und auszutilgen.
Aus sicherer Entfernung starrt Zanrelot auf das gut gesicherte Gebäude, hinter dessen Mauern Matreus eingesperrt ist. Er weiß, wer zur selben Zeit in einer der Zellen sitzen müsste. Doch dem kann er ohnehin nicht helfen, das ist Vergangenheit. Aber Matreus muss da raus, bevor es zu spät ist! Zanrelots Hand zittert leicht, als er erst auf den Kerker, dann auf den qualmenden Überrest des Scheiterhaufens deutet. "Der übliche Weg führt direkt von da nach da", flüstert er Jona zu.
Zur gleichen Zeit reden im Gebäude zwei Kerkeraufseher miteinander. "Hast du das gesehen?" fragt der eine, "die Augen des Gefangenen haben grün geglüht! Erinnert dich das an jemanden?" "Klar, das ist mir auch sofort aufgefallen. Wetten, unsere beiden Gefangenen stecken unter einer Decke? Da haben wir wohl gleich ein ganzes Nest schwarzer Magier ausgehoben. Nur wer der Rädelsführer ist, wissen wir immer noch nicht. Man munkelt, es sei ein angesehener Lübecker Bürger. Er muss ein gutes Versteck haben und sich im Alltag gut tarnen können." "Ich hab etwas anderes gehört", raunt sein Kollege furchtsam, "der Teufel selbst soll dahinterstecken." Beide Wärter bekreuzigen sich hastig.
Zanrelot und Jona draußen müssen nicht lange warten, bis sich etwas tut. Herolde sammeln den Pöbel aus allen Gassen zu einem neuen Spektakel. Das Volk ist der vielen Hinrichtungen längst überdrüssig, aber für heute wird ihnen eine besondere Vorstellung versprochen. Und nach all den Gerüchten, die heute im Umlauf sind, könnte das der Wahrheit entsprechen. Bald bevölkern neugierige Gaffer den ganzen Marktplatz.
Der Scheiterhaufen, noch nicht ausgeglüht, wird wieder neu aufgeschichtet. Bewaffnete Soldaten führen Matreus in Ketten aus dem Kerker und schleppen ihn auf eine Tribüne. Hier wartet der Organisator des ganzen Spektakels, der Herzog von Braunschweig. In vollem Prunkornat zeigt er sich dem Volk. Seine Haltung drückt heute mehr als seinen üblichen, überheblichen Stolz aus: Er zeigt seinen Untertanen, dass er noch da ist. Denn vor nicht mehr als einer Stunde hat ein Attentat auf ihn stattgefunden.
"Bürger von Lübeck!" lässt ein neben ihm stehender Herold seine Stimme erschallen, "sicher wisst ihr es bereits: Auf euren geliebten Herzog wurde ein schändlicher Anschlag verübt! Doch Gottes Hand führte die Hand des Mörders fehl und lieferte ihn in unsere Hände." Schergen, die sich unters Volk gemischt haben, sorgen für den nötigen Jubel und stacheln mit ihren Lanzen diejenigen an, die bei den Worten vom "geliebten Herzog" zu kritisch geguckt haben. Es gibt aber auch genug Leute, die von allein jubeln, von der Massenhysterie mitgerissen und ziemlich uninteressiert daran, für oder gegen wen sie ihre Stimme erheben.
"Dieser hier", ruft der Herold theatralisch und deutet auf den gefesselten Matreus, um nach eine Kunstpause fortzufahren: "... nein, dieser hier ist es nicht. Doch er steckt mit dem Täter unter einer Decke. Er hat dasselbe grüne Leuchten in den Augen. Nicht wahr, du schändlicher Zauberer, du bist ein Kumpan Zanrelots! Dafür sollst du sogleich auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Doch erst... führt den anderen Gefangenen heran!"
Zwei Soldaten schleppen einen weiteren Mann in Ketten aus dem Kerker auf die Tribüne. Es ist unverkennbar Zanrelots früheres Ich. Der Zanrelot aus der Neuzeit wendet den Blick ab. Er will das nicht noch einmal erleben, und er wollte eigentlich auch unbedingt vermeiden, dass Jona und Matreus es sehen.
Der frühere Zanrelot steht nun dem Herzog direkt gegenüber. Er ist gefesselt und fast einen Kopf kleiner als der kräftig gebaute Herzog, doch er hält den Kopf stolz aufrecht und schaut seinem Gegner in die Augen. Der Herzog starrt ihn hasserfüllt an und hält ihm ein Messer entgegen: "Du wolltest mich also töten? Damit?" Zanrelot nickt. "Welch törichter Versuch, und er soll dir übel bekommen!" schreit der Herzog ihn an und ritzt ihn mit dem Messer am Hals, "aber zuerst sollst du noch gestehen, wer deine Komplizen sind. Ich will das ganze Nest ausräuchern, damit ich wieder ruhig schlafen kann!" Er zeigt auf Matreus: "Das ist einer von euch, gib es zu!" Zanrelot schüttelt verwundert den Kopf: "Ich habe diesen Mann nie gesehen." "Lügner!" brüllt der Herzog und versetzt ihm einen Faustschlag ins Gesicht, "er hat dasselbe grüne Teufelsglühen in den Augen wie du! Nun, du brauchst es nicht zu gestehen, ihr landet ohnehin beide auf dem Scheiterhaufen. Aber vorher will ich wissen, wer euer Meister ist! Und wer alles zu deiner Familie gehört, denn keinen von dieser Mörderbrut darf man leben lassen." Zanrelot lacht ihm ins Gesicht: "Familie? Ihr wisst doch, wer ich bin: der Sohn Wullenwevers, der mutterlose Bastard, den Ihr zur Vollwaise gemacht habt. Oder könnt Ihr Euch an den Mord an meinem Vater gar nicht mehr entsinnen, bei so vielen Opfern?" Wütend entgegnet der Herzog: "Ich weiß sehr wohl, dass du die Brut dieses Verräters bist! Aber hast du nicht vielleicht Frau und Kind?" Wieder lacht Zanrelot: "Frau und Kind, ein schwarzer Magier wie ich? Glaubt Ihr im Ernst, unsereins hätte so etwas?" Der Herzog kommt ins Grübeln und murmelt schließlich: "Nun, das ist wohl wahr. Also keine Gefahr aus dieser Richtung." Erneut fragt er: "Aber wer ist dein Meister?" "Das sage ich dir niemals!" entgegnet Zanrelot mit fester Stimme. "Dann wirst du verbrannt!" schreit der Herzog. "Das werde ich ohnehin, nicht wahr?" "Ja,... aber... dann... sollst du zuerst gefoltert werden, bis du gestehst, und dann verbrannt! Männer, führt ihn zurück in den Kerker und in die Folterkammer und gebt euch Mühe, ich will ihn heute noch auf dem Scheiterhaufen sehen! Bis dahin wollen wir uns die Zeit damit vertreiben, seinen Kumpan zu rösten." Er deutet auf Matreus.
Plötzlich geht ein Raunen durch die Menge und sie teilt sich ehrfürchtig, um jemanden hindurch zu lassen. "Der ehrwürdige Abt!" Der hochgewachsene, hagere Mann im dunklen Kapuzenmantel schreitet über den Platz und erklimmt die Tribüne. Der Herzog verneigt sich vor ihm. "Mann der Kirche", grüßt er ihn respektvoll, "ehrwürdiger Abt von Lübeck, was führt uns zu der Ehre Eures Besuchs? Seid Ihr hier, um den Verbrecher Zanrelot sterben zu sehen?" Der Abt mustert den Gefangenen und schüttelt dann langsam den Kopf. "Nein, Euer Eminenz. Mit Verlaub, dies ist ein Fall für die Heilige Inquisition, nicht für ein weltliches Gericht. Denn dieses Scheusal ist nicht nur ein einfacher Mörder, sondern auch ein Anhänger allerfinsterster Schwarzer Magie. Es wäre viel zu gnädig, ihn einfach zu verbrennen. Und auch Eure Folterknechte könnten nicht viel gegen ihn ausrichten. Er würde sich mit teuflischen Zaubern vor Schmerzen schützen, und wenn er überhaupt etwas gestünde, dann nur Lügen, die der Satan ihm eingibt. Ich aber habe heilige Mittel, die ihn zwingen, die Wahrheit zu sagen. Seht nur, wo Ihr ihn geritzt habt: Sein Blut ist grün! Er ist schon mehr ein Dämon als ein Mensch. Es braucht einen erfahrenen Exorzisten wie mich, um ihm die bösen Kräfte auszutreiben, so dass er sterben kann. Überlasst ihn mir, Herr! Ich weiß eine unterirdische Höhle, wo ich ihn in der Abgeschiedenheit befragen will. Ist erst die Wahrheit aus ihm heraus und er schwach und sterblich, dann sollt Ihr ihn wiederhaben, um ihn zu verbrennen."
Der Herzog zögert. Normalerweise ist nur sein eigenes Wort Gesetz, doch die Kirche ist eine Autorität, auf die er hört. "Ihr mögt recht haben", gibt er zu, "doch ich will zuerst noch meinen Hofinquisitor befragen. Bringt Innozenz her!" Seine Leute führen einen Mann im langen, weißen Gewand herbei, den "Weißen Magier" des Herzogs. Der Abt deutet eine Verneigung an und grüßt höflich, aber mit einem leiht spöttischen Zug um die Mundwinkel: "Innozenz, mein Bruder im Herrn..." Aber Zanrelot sieht den Ankömmling voller Verachtung an: "Innozenz! 'Der Unschuldige!' Welch ein Name für einen Verräter an der Magie und einen Folterknecht sondergleichen!" Der Weiße Magier antwortet nicht darauf, doch der Herzog schreit den Gefangenen wutentbrannt an: "Wie redest du mit einem heiligen Mann, du Teufelsjünger?" Er schlägt brutal auf den Gefesselten ein, bis er am Boden liegt. "Lasst ihn!" sagt Innozenz großzügig. Dann verfügt er: "Der Wille des ehrwürdigen Abtes möge geschehen. Er soll ihn mit in jene unterirdische Höhle nehmen. Doch, mit Verlaub, Zanrelot soll nicht mehr von dort zurückkehren. Es gibt Schlimmeres als den Tod, ja, selbst als den Feuertod. Ich will ihn mit einem Fluch belegen, der ihn auf ewig in die Unterwelt verbannt!" Dem grausamen Herzog gefällt der Gedanke. Das wäre mal etwas Neues, nach all den öffentlichen Verbrennungen. Außerdem wird heute sowieso noch jemand dem Feuer übergeben, das reicht ja. "Und das vermögt Ihr zu tun?" vergewissert er sich. "Ja, das kann ich", erwidert der Hofmagier, "allerdings nicht allein. Nur wenn das Volk von Lübeck mich dabei unterstützt." "Dann verfluche ihn!" ruft der Herzog begeistert aus, "er soll unter der Erde verrotten, bis... bis..." Er lacht überheblich und schreit: "Bis er mächtiger ist als ich, der kleine Gernegroß! Ja, bis er hundert Prozent Macht über Lübeck hat! Ha ha ha!" Der Weiße Magier zieht missbilligend eine Augenbraue hoch, doch er sagt: "Wie Ihr wünscht, Herr."
"Ich werde nun den Fluch aussprechen", verkündet er den Lübeckern, "und ihr müsst mich unterstützen, indem ihr danach alle gemeinsam ausruft: 'Sic fiat, in nomine nostro!' Dieses heißt: 'So sei es, in unserem Namen!' Nur so kann es gelingen, denn es ist ein sehr mächtiger Fluch."
Innozenz breitet die Arme über dem am Boden liegenden Zanrelot aus und sagt mit lauter Stimme: "Te relego ad inferos, desperans liberationis sine arbitrium absolutum!"
Die ersten fangen an zu schreien: "Sic fiat, in nomine nostro!" Allmählich schnappen immer mehr Leute die Worte auf und schreien mit. Zanrelots Augen fangen voller Wut und Hass an zu glühen. "Ihr widerlichen Kriecher!" ruft er dem Volk zu, "dann behaltet doch euren Schlächter, ihr wollt es ja nicht anders! Mein Vater hat nur Undank von euch geerntet, mir ergeht es nicht anders! Ich habe bisher nur einen gehasst, aber jetzt hasse ich euch alle!" Innozenz blickt vernichtend auf ihn hinab und sagt: "Dafür will ich den Fluch noch verschärfen. Bisher habe ich dich nur in die Unterwelt verbannt, ohne Hoffnung auf Erlösung ohne die absolute Macht. Aber ich will dir noch alles nehmen, was das Leben lebenswert macht. Was andere erfreut, soll dich krank machen, Zanrelot!" Er breitet erneut die Arme aus und ruft: "Beneficia tibi dolorem afferent!" Nach einer auffordernden Geste skandiert das Volk erneut: "Sic fiat in nomine nostro! Sic fiat in nomine nostro!" Zanrelots verzweifelter Ausruf mischt sich in das wilde Kreischen: "Ich hasse euch! Ich hasse euch! ICH HASSE EUCH!!!" Dann verschlingt ihn vor den Augen aller die Erde.
Beeindruckt starren die Menschen noch lange auf die Stelle, wo sich die Erde aufgetan und wieder verschlossen hat. Der Schwarze Abt wirft seinem "weißen" Kollegen einen bösen Blick zu und verlässt eilig den Ort des Geschehens. Als alle sich endlich wieder einigermaßen gefasst haben, ruft der Herzog: "Groß sind die Werke des Herrn und seiner Diener! Und nun lasst uns den Sieg über das Böse feiern, mit einem Freudenfeuer!" Er hat sich nämlich gerade wieder an Matreus' Anwesenheit erinnert. "Ergreift diesen Sünder und bindet ihn auf den Scheiterhaufen!" befiehlt er, "und fangt schon langsam an, einzuheizen!" Wie befohlen, wird der arme Matreus an den Pfahl gebunden und um ihn herum neuer Reisig aufgeschichtet. Am äußersten Rand zündet man ein kleines Flämmchen an, und er kann zusehen, wie es sich langsam weiter auf die Mitte des Scheiterhaufens zuschlängelt...
"Jona", flüstert Zanrelot verzweifelt, "es wird allerhöchste Zeit, dass uns etwas einfällt!"