Unter der Oberfläche
Eine 4-gegen-Z-Fanfiction von Smilla
Silke strich sich nervös durch das blonde Haar. Was um Himmels willen tat sie eigentlich hier? Warum stand sie als erwachsene Frau mitten auf einer Lübecker Straße herum und hörte sich die Fantasiegeschichten kleiner Kinder an? Hatte sie nichts Besseres zu tun? Sie war hierher gekommen, um seriöse Ahnenforschung zu betreiben, und stattdessen vergeudete sie ihre Zeit mit haarsträubenden Geschichten über einen angeblichen Verwandten, der seit fünfhundert Jahren sein Unwesen in oder unter der Stadt treiben sollte. Wie lächerlich!
„Es tut mir leid...“ Sie versuchte, nicht allzu unhöflich beim Abwimmeln der vier Kinder zu sein. „Es tut mir wirklich sehr leid, das klingt ja alles wahnsinnig spannend, aber ich habe einen wichtigen Termin im Rathaus. Also... tschüss!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging, fest entschlossen, sich nicht umzudrehen und die Kinderstimmen hinter sich zu ignorieren: „Bitte gehen Sie nicht! Bitte warten Sie, Frau Wullenwever!“
Sie war standhaft geblieben und den lästigen Kindern entkommen. Im Lübecker Rathaus hatte sie der Bürgermeister persönlich empfangen und bereitwillig Auskunft über ihren berühmt-berüchtigten Vorfahren, seinen mittelalterlichen Amtsvorgänger, gegeben. Nachdenklich hingen Silkes grüngraue Augen am Porträt Jürgen Wullenwevers. „Armer Kerl“, meinte sie, „wurde er tatsächlich geköpft und seine Leiche hinterher noch gevierteilt?“ Der Bürgermeister lächelte verlegen: „Nun ja, er galt als Verräter. Sein Verhalten war nicht besonders ehrenhaft.“ Silke zog die Brauen zusammen, was ihr stets einen finsteren Ausdruck verlieh. „Es war auch nicht ehrenhaft, ihn so zu behandeln“, beharrte sie, „und wenn Sie das als gerecht empfinden, müssten wir heute mit einem Großteil unserer Politiker so verfahren.“ Der Stadtvater lächelte gequält: „Da mögen Sie natürlich recht haben.“
Im Archiv verbrachte Silke lange Zeit über den alten Dokumenten. „Ich bin also tatsächlich eine Nachfahrin des berühmten Wullenwever“, schloss sie nach dem Vergleich der Urkunden mit ihren eigenen Unterlagen, „wissen Sie, ob ich die einzige bin? Tatsächlich bin ich nämlich ein Einzelkind und zumindest in Hamburg sind mir keine weiteren Verwandten bekannt. Demnach läge die Verantwortung, die Wullenweverschen Gene weiterzuvererben, allein bei mir. Was für ein Gedanke!“ Sie lachte leise. Der Bürgermeister hob die Schultern: „Ich weiß es nicht. Der Sage nach gab es noch einen anderen Zweig von Nachfahren, doch das ist historisch nicht belegt. Sie, verehrte Frau Wullenwever, stammen von Jürgen Wullenwevers ehelichem Sohn ab. Er soll aber auch noch einen unehelichen gehabt haben, mit seiner Magd. Das Kind soll Franz Olte geheißen haben, doch seine Spur verliert sich in den Unterlagen. Wir wissen nicht, was aus ihm wurde, falls er denn überhaupt existiert hat.“ Er lachte herablassend: „Angeblich spukt er noch heute herum und will Rache für den Tod seines Vaters nehmen. Doch falls Sie Interesse an diesen Ammenmärchen haben, müssen Sie sich bitte andere Informanten suchen. Ich befasse mich ausschließlich mit historischen Fakten.“ Silke schien aus ihren Gedanken hochzuschrecken: „Wie? Äh,... ach ja. Natürlich. Danke, ich glaube, ich habe meine Informanten bereits gefunden.“ „Wie meinen?“ Der Bürgermeister sah ihr verwundert nach, als sie eilig das Rathaus verließ.
„Warum sind Sie zurückgekommen? Und wie haben Sie uns gefunden?“ Silke hielt Ottis bohrendem Blick stand. „Ich bin zurückgekommen, weil eine zuverlässige Quelle mir bestätigt hat, was ihr erzählt habt. Es interessiert mich. Und ich musste euch ja nicht groß suchen, ihr seid selbst auch zu dem Ort zurückgekehrt, wo wir uns getroffen hatten. Wusstest ihr, dass ich zurückkehren würde?“ „Nein. Wir haben es gehofft.“
„Wir sollten nicht noch mehr Zeit vertrödeln“, warf das ältere Mädchen ein, „kommen Sie bitte mit uns, dann können wir Ihnen beweisen, dass die Geschichte kein Ammenmärchen ist!“ „Ihr macht mich wirklich neugierig, ihr vier. Ich komme mit.“
Im Haus, wo die vier merkwürdigen Kinder lebten, sah Silke mit eigenen Augen, wie sie durch den Spiegel verschwanden, umhüllt von giftgrünem Nebel, und wie sie später in der benachbarten Scheune wieder auftauchten. Sie hielt das Zauberbuch in ihren eigenen Händen und spürte die Macht, die von ihm ausging. Ein Zittern durchrieselte ihren Körper. „Ich glaube euch“, flüsterte sie schließlich, „auch wenn ich dafür vielleicht in der Irrenanstalt lande. Dieser Zanrelot,... er haust wirklich unter dieser Stadt, nicht wahr? Und dieser schwarze Magier ist tatsächlich mit mir verwandt?“ Die beiden Jungen, Otti und Pinkas, nickten ernst. Das kleinere Mädchen, Leo, schaute Silke eindringlich an und sagte: „Ja. Sie haben dieselben Augen. Leuchten die auch, wenn Sie wütend sind?“ Silke lachte: „Ich weiß nicht. Vielleicht? Meine Freunde sagen, ich sähe furchteinflößend aus, wenn ich sauer bin.“ Sie setzte einen bewusst finsteren Blick auf. „Ja, das tun Sie“, bestätigte Karo, das größere Mädchen, „aber das giftgrüne Leuchten haben Sie nicht in den Augen. Sie sind ja auch nicht voller Hass, oder?“. „Nein.“ Silke lächelte und augenblicklich war der düstere Ausdruck von ihrem Gesicht verschwunden. Otti hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt und betrachtete sie kritisch. „Nein“, stellte er fest, „keinerlei grünes Leuchten, auch nicht um sie herum. Es ist nichts Böses oder Magisches an ihr.“
Nachdem die vier Wächter ihr ausführlich erklärt hatten, was es mit ihnen und mit Zanrelot und seinen Helfern auf sich hatte, sagten sie ihr, welche Aufgabe sie ihr zugedacht hatten. Sie sprang auf: „Ich? Nein! Wie kommt ihr gerade auf mich?“ Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann setzte sie sich wieder und bemühte sich um eine etwas ruhigere Tonlage: „Warum soll gerade ich für euch Zanrelot vernichten? Warum macht ihr das nicht selbst? Was hab denn ich damit zu tun? Warum ich?“ „Weil Sie seine einzige lebende Verwandte sind“, antwortete Otti. Er verschwieg Jona, den Sohn, doch der konnte ihnen nicht mehr von Nutzen sein. Silke rieb sich die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen. „Ja, richtig, er ist mein Verwandter. Umso absurder ist das Ganze! Warum sollte ich meinen eigenen Verwandten vernichten?“ „Weil Sie nicht ernsthaft wollen, dass er die Stadt und vielleicht die Welt zerstört, nicht wahr?“ erwiderte die kleine Leonie und blickte sie flehend an. Silke senkte den Kopf. „Nein, natürlich nicht“, flüsterte sie, „gibt es denn keinen anderen Weg?“ „Nein“, erklärte Karo, „den Zauber, den wir planen, kann nur eine Blutsverwandte ausführen. So steht es im Zauberbuch. Hier!“
Am nächsten Tag stand Silke vor dem magischen Spiegel, beide Hände krampfhaft um die Fläschchen in ihren Hosentaschen geklammert. Das eine enthielt den Stärkungstrank, der ihr im Notfall helfen sollte, das andere den Liebestrank. Den Liebestrank, der kränken und töten sollte. Ihr war, als brannte er in ihrer Hand, als wehrte er sich gegen diesen Missbrauch seiner Bestimmung.
Ihr wurde schwindelig, als sie in den Sog der Schleuse gezogen wurde. Sie wirbelte durch einen Tunnel aus Finsternis und grünem Licht. Dann fand sie sich im Halbdunkel wieder und irrte durch verschlungene Gänge, bis sie in einen düsteren Raum geriet, in dessen Mitte ein Computerterminal unter einem augenfürmigen Metallbogen und einer Wolke aus grünem Leuchten stand. Dies musste das Herz der Unterwelt sein, Zanrelots Zentrale. Bewundernd blickte Silke sich um. Auch nach den Schilderungen der Kinder hatte sie sich diesen Ort nicht so beeindruckend vorgestellt. „Zanrelot?“ rief sie, nachdem sie sich einigermaßen gefasst hatte. Dann noch einmal lauter: „Zanrelot!“
„Er bevorzugt die Anrede ‚Meister’“, riet ihr eine spöttische Stimme von hinten. Sie wirbelte herum und erblickte einen jung aussehenden Mann. Dies musste Zanrelots Diener sein. „Matreus!“ „In der Tat.“ Er deutete eine Verbeugung an. Doch als er sich wieder aufrichtete, wurde sein niedlicher Dackelblick plötzlich hart und kalt. „Was willst du von meinem Meister?“ fragte er argwöhnisch und eifersüchtig. „Nichts Böses“, versicherte Silke, „ich bin seine Verwandte.“
„Nichts Böses?“ fragte eine samtene Stimme aus dem Hintergrund, „wie schade!“ Ein Mann löste sich aus dem Dunkel, in dem ihn das Schwarz seines langen Mantels perfekt verborgen hatte. Das schwache Licht des Raumes fing sich in seinem silberhellen Haar und seinen leuchtend grünen Augen. Silke hielt den Atem an. Es war keine Frage, sondern Gewissheit, als sie hauchte: „Zanrelot!“
Er trat langsam näher, mit den lautlosen, geschmeidigen Bewegung eines Raubtiers, umkreiste sie und kam dicht vor ihr zum Stehen. Er lächelte, leicht spöttisch und doch charmant. Als er die linke Hand hob, sah sie den einzelnen, langen, grünen Fingernagel am kleinen Finger. Seine Geste war pure Eleganz, als er ihr eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht strich, um ihr ungehindert in die Augen zu sehen. „In der Tat“, murmelte er, „meine Augen. Es wäre möglich.“ Irrte sie sich oder sah sie einen Anflug von Sehnsucht in seinem Blick? „Ich habe selten Gäste“, sagte er und klang merkwürdig müde, „und noch seltener... Verwandtenbesuch! Meine Eltern haben mich sträflich vernachlässigt, seit meine Mutter an der Pest starb und mein Vater ermordet wurde. Und mein Sohn... Reden wir nicht davon. Matreus, deck den Tisch für unseren Gast! Vom Feinsten, hörst du?“
Eine 4-gegen-Z-Fanfiction von Smilla
Silke strich sich nervös durch das blonde Haar. Was um Himmels willen tat sie eigentlich hier? Warum stand sie als erwachsene Frau mitten auf einer Lübecker Straße herum und hörte sich die Fantasiegeschichten kleiner Kinder an? Hatte sie nichts Besseres zu tun? Sie war hierher gekommen, um seriöse Ahnenforschung zu betreiben, und stattdessen vergeudete sie ihre Zeit mit haarsträubenden Geschichten über einen angeblichen Verwandten, der seit fünfhundert Jahren sein Unwesen in oder unter der Stadt treiben sollte. Wie lächerlich!
„Es tut mir leid...“ Sie versuchte, nicht allzu unhöflich beim Abwimmeln der vier Kinder zu sein. „Es tut mir wirklich sehr leid, das klingt ja alles wahnsinnig spannend, aber ich habe einen wichtigen Termin im Rathaus. Also... tschüss!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging, fest entschlossen, sich nicht umzudrehen und die Kinderstimmen hinter sich zu ignorieren: „Bitte gehen Sie nicht! Bitte warten Sie, Frau Wullenwever!“
Sie war standhaft geblieben und den lästigen Kindern entkommen. Im Lübecker Rathaus hatte sie der Bürgermeister persönlich empfangen und bereitwillig Auskunft über ihren berühmt-berüchtigten Vorfahren, seinen mittelalterlichen Amtsvorgänger, gegeben. Nachdenklich hingen Silkes grüngraue Augen am Porträt Jürgen Wullenwevers. „Armer Kerl“, meinte sie, „wurde er tatsächlich geköpft und seine Leiche hinterher noch gevierteilt?“ Der Bürgermeister lächelte verlegen: „Nun ja, er galt als Verräter. Sein Verhalten war nicht besonders ehrenhaft.“ Silke zog die Brauen zusammen, was ihr stets einen finsteren Ausdruck verlieh. „Es war auch nicht ehrenhaft, ihn so zu behandeln“, beharrte sie, „und wenn Sie das als gerecht empfinden, müssten wir heute mit einem Großteil unserer Politiker so verfahren.“ Der Stadtvater lächelte gequält: „Da mögen Sie natürlich recht haben.“
Im Archiv verbrachte Silke lange Zeit über den alten Dokumenten. „Ich bin also tatsächlich eine Nachfahrin des berühmten Wullenwever“, schloss sie nach dem Vergleich der Urkunden mit ihren eigenen Unterlagen, „wissen Sie, ob ich die einzige bin? Tatsächlich bin ich nämlich ein Einzelkind und zumindest in Hamburg sind mir keine weiteren Verwandten bekannt. Demnach läge die Verantwortung, die Wullenweverschen Gene weiterzuvererben, allein bei mir. Was für ein Gedanke!“ Sie lachte leise. Der Bürgermeister hob die Schultern: „Ich weiß es nicht. Der Sage nach gab es noch einen anderen Zweig von Nachfahren, doch das ist historisch nicht belegt. Sie, verehrte Frau Wullenwever, stammen von Jürgen Wullenwevers ehelichem Sohn ab. Er soll aber auch noch einen unehelichen gehabt haben, mit seiner Magd. Das Kind soll Franz Olte geheißen haben, doch seine Spur verliert sich in den Unterlagen. Wir wissen nicht, was aus ihm wurde, falls er denn überhaupt existiert hat.“ Er lachte herablassend: „Angeblich spukt er noch heute herum und will Rache für den Tod seines Vaters nehmen. Doch falls Sie Interesse an diesen Ammenmärchen haben, müssen Sie sich bitte andere Informanten suchen. Ich befasse mich ausschließlich mit historischen Fakten.“ Silke schien aus ihren Gedanken hochzuschrecken: „Wie? Äh,... ach ja. Natürlich. Danke, ich glaube, ich habe meine Informanten bereits gefunden.“ „Wie meinen?“ Der Bürgermeister sah ihr verwundert nach, als sie eilig das Rathaus verließ.
„Warum sind Sie zurückgekommen? Und wie haben Sie uns gefunden?“ Silke hielt Ottis bohrendem Blick stand. „Ich bin zurückgekommen, weil eine zuverlässige Quelle mir bestätigt hat, was ihr erzählt habt. Es interessiert mich. Und ich musste euch ja nicht groß suchen, ihr seid selbst auch zu dem Ort zurückgekehrt, wo wir uns getroffen hatten. Wusstest ihr, dass ich zurückkehren würde?“ „Nein. Wir haben es gehofft.“
„Wir sollten nicht noch mehr Zeit vertrödeln“, warf das ältere Mädchen ein, „kommen Sie bitte mit uns, dann können wir Ihnen beweisen, dass die Geschichte kein Ammenmärchen ist!“ „Ihr macht mich wirklich neugierig, ihr vier. Ich komme mit.“
Im Haus, wo die vier merkwürdigen Kinder lebten, sah Silke mit eigenen Augen, wie sie durch den Spiegel verschwanden, umhüllt von giftgrünem Nebel, und wie sie später in der benachbarten Scheune wieder auftauchten. Sie hielt das Zauberbuch in ihren eigenen Händen und spürte die Macht, die von ihm ausging. Ein Zittern durchrieselte ihren Körper. „Ich glaube euch“, flüsterte sie schließlich, „auch wenn ich dafür vielleicht in der Irrenanstalt lande. Dieser Zanrelot,... er haust wirklich unter dieser Stadt, nicht wahr? Und dieser schwarze Magier ist tatsächlich mit mir verwandt?“ Die beiden Jungen, Otti und Pinkas, nickten ernst. Das kleinere Mädchen, Leo, schaute Silke eindringlich an und sagte: „Ja. Sie haben dieselben Augen. Leuchten die auch, wenn Sie wütend sind?“ Silke lachte: „Ich weiß nicht. Vielleicht? Meine Freunde sagen, ich sähe furchteinflößend aus, wenn ich sauer bin.“ Sie setzte einen bewusst finsteren Blick auf. „Ja, das tun Sie“, bestätigte Karo, das größere Mädchen, „aber das giftgrüne Leuchten haben Sie nicht in den Augen. Sie sind ja auch nicht voller Hass, oder?“. „Nein.“ Silke lächelte und augenblicklich war der düstere Ausdruck von ihrem Gesicht verschwunden. Otti hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt und betrachtete sie kritisch. „Nein“, stellte er fest, „keinerlei grünes Leuchten, auch nicht um sie herum. Es ist nichts Böses oder Magisches an ihr.“
Nachdem die vier Wächter ihr ausführlich erklärt hatten, was es mit ihnen und mit Zanrelot und seinen Helfern auf sich hatte, sagten sie ihr, welche Aufgabe sie ihr zugedacht hatten. Sie sprang auf: „Ich? Nein! Wie kommt ihr gerade auf mich?“ Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann setzte sie sich wieder und bemühte sich um eine etwas ruhigere Tonlage: „Warum soll gerade ich für euch Zanrelot vernichten? Warum macht ihr das nicht selbst? Was hab denn ich damit zu tun? Warum ich?“ „Weil Sie seine einzige lebende Verwandte sind“, antwortete Otti. Er verschwieg Jona, den Sohn, doch der konnte ihnen nicht mehr von Nutzen sein. Silke rieb sich die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen. „Ja, richtig, er ist mein Verwandter. Umso absurder ist das Ganze! Warum sollte ich meinen eigenen Verwandten vernichten?“ „Weil Sie nicht ernsthaft wollen, dass er die Stadt und vielleicht die Welt zerstört, nicht wahr?“ erwiderte die kleine Leonie und blickte sie flehend an. Silke senkte den Kopf. „Nein, natürlich nicht“, flüsterte sie, „gibt es denn keinen anderen Weg?“ „Nein“, erklärte Karo, „den Zauber, den wir planen, kann nur eine Blutsverwandte ausführen. So steht es im Zauberbuch. Hier!“
Am nächsten Tag stand Silke vor dem magischen Spiegel, beide Hände krampfhaft um die Fläschchen in ihren Hosentaschen geklammert. Das eine enthielt den Stärkungstrank, der ihr im Notfall helfen sollte, das andere den Liebestrank. Den Liebestrank, der kränken und töten sollte. Ihr war, als brannte er in ihrer Hand, als wehrte er sich gegen diesen Missbrauch seiner Bestimmung.
Ihr wurde schwindelig, als sie in den Sog der Schleuse gezogen wurde. Sie wirbelte durch einen Tunnel aus Finsternis und grünem Licht. Dann fand sie sich im Halbdunkel wieder und irrte durch verschlungene Gänge, bis sie in einen düsteren Raum geriet, in dessen Mitte ein Computerterminal unter einem augenfürmigen Metallbogen und einer Wolke aus grünem Leuchten stand. Dies musste das Herz der Unterwelt sein, Zanrelots Zentrale. Bewundernd blickte Silke sich um. Auch nach den Schilderungen der Kinder hatte sie sich diesen Ort nicht so beeindruckend vorgestellt. „Zanrelot?“ rief sie, nachdem sie sich einigermaßen gefasst hatte. Dann noch einmal lauter: „Zanrelot!“
„Er bevorzugt die Anrede ‚Meister’“, riet ihr eine spöttische Stimme von hinten. Sie wirbelte herum und erblickte einen jung aussehenden Mann. Dies musste Zanrelots Diener sein. „Matreus!“ „In der Tat.“ Er deutete eine Verbeugung an. Doch als er sich wieder aufrichtete, wurde sein niedlicher Dackelblick plötzlich hart und kalt. „Was willst du von meinem Meister?“ fragte er argwöhnisch und eifersüchtig. „Nichts Böses“, versicherte Silke, „ich bin seine Verwandte.“
„Nichts Böses?“ fragte eine samtene Stimme aus dem Hintergrund, „wie schade!“ Ein Mann löste sich aus dem Dunkel, in dem ihn das Schwarz seines langen Mantels perfekt verborgen hatte. Das schwache Licht des Raumes fing sich in seinem silberhellen Haar und seinen leuchtend grünen Augen. Silke hielt den Atem an. Es war keine Frage, sondern Gewissheit, als sie hauchte: „Zanrelot!“
Er trat langsam näher, mit den lautlosen, geschmeidigen Bewegung eines Raubtiers, umkreiste sie und kam dicht vor ihr zum Stehen. Er lächelte, leicht spöttisch und doch charmant. Als er die linke Hand hob, sah sie den einzelnen, langen, grünen Fingernagel am kleinen Finger. Seine Geste war pure Eleganz, als er ihr eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht strich, um ihr ungehindert in die Augen zu sehen. „In der Tat“, murmelte er, „meine Augen. Es wäre möglich.“ Irrte sie sich oder sah sie einen Anflug von Sehnsucht in seinem Blick? „Ich habe selten Gäste“, sagte er und klang merkwürdig müde, „und noch seltener... Verwandtenbesuch! Meine Eltern haben mich sträflich vernachlässigt, seit meine Mutter an der Pest starb und mein Vater ermordet wurde. Und mein Sohn... Reden wir nicht davon. Matreus, deck den Tisch für unseren Gast! Vom Feinsten, hörst du?“
Zuletzt von Smilla Sly am Mi Dez 24, 2008 1:58 am bearbeitet; insgesamt 2-mal bearbeitet