Nach Jonas vernichtenden Worten bleibt Zanrelot minutenlang schweigend hocken, eine Hand vor die Augen geschlagen. Dann strafft er sich etwas, sieht Jona wieder an und sagt: "Du willst also gehen, wenn wir uns nichts mehr zu sagen haben? Dann wirst du noch bleiben müssen, denn wenn du mir nichts mehr zu sagen hast, - ich dir schon!"
Er weiß genau, er muss ihn irgendwann gehenlassen, doch er zögert es so lange wie möglich hinaus. Er bringt es nicht übers Herz, weil er weiß, so schnell wird er seinen Sohn dann nicht wieder zu sehen bekommen. Vielleicht sogar nie wieder. Alle Eltern müssen irgendwann ihre Kinder eigene Wege gehen lassen, aber meist tun sie es doch in dem Bewusstsein, dass man in Verbindung bleiben wird. Wenn Jona sich doch nur ab und zu blicken lassen würde! Wenn er den einen oder anderen Gedanken an Zanrelot verschwenden würde, in seinem Leben da oben, - Gedanken ohne Hass...
"Warum nennst du mich einen Lügner?" fragt Zanrelot enttäuscht, "du weißt, ich bin vieles, aber nicht das. Ich sage immer unverhohlen, was ich denke und was ich will, auch wenn es vielen nicht gefällt. Warum unterstellst du mir, ich würde jedem die Schuld geben, nur nicht mir? Hast du mir nicht zugehört? Ich habe gesagt: Ich bin schuld an vielem. Aber du, Jona, hast wohl in über vierhundert Jahren Leben noch keine Fehler gemacht? Beneidenswert, wie machst du das nur?" Er sieht seinen Sohn nachdenklich an. Trotz der Zahl der Jahre wirkt Jona noch sehr jung, nicht nur äußerlich. Vielleicht muss er erst noch so erwachsen werden, dass er eigene Fehler macht und auch sieht. Zum Erwachsenwerden gehört auch zu sehen, dass der eigene Vater schwach ist und Fehler hat. Und, noch einen Schritt weiter, ihm dafür nicht mehr böse zu sein. Vielleicht ist Jona noch nicht so weit? Wird er es je sein?
Vielleicht hat es gar keinen Sinn, ihm etwas erklären zu wollen, aber Zanrelot versucht es verzweifelt weiter: "Das mit deiner Mutter... Hast du so ganz vergessen, wie das Mittelalter war? Da oben in 'Sünde' und Schande zu leben, mit mir und dann mit dir, war eine Sache für sie. Das lag noch im Bereich des 'Menschlichen'. Aber alles, was mit der Unterwelt und Dämonen und der Magie zu tun hatte, lag im Bereich finstersten Aberglaubens und war einfach undenkbar für sie. Und noch etwas siehst du falsch: die Sache mit dem Fluch. Die Lübecker haben mich nicht verflucht, weil ich mich an ihnen rächen wollte. Es war umgekehrt! Das kannst du sogar im Buch deiner geliebten Wächter nachlesen: Der Fluch war die Strafe dafür, dass ich den Herzog von Braunschweig töten wollte, den grausamen Mörder meines Vaters und unzähliger anderer. Ihn und keinen anderen! Was hatten die Lübecker mit ihm zu schaffen? Warum haben sie mir das angetan, ist das fair? Ewige Haft, allein im Dunkeln, und gegen alles allergisch zu sein, was angeblich das Leben lebenswert macht? Ein Unberührbarer zu sein, im wahrsten Sinne des Wortes? Ist je ein Mensch so bestraft worden, für einen Anschlag auf einen solchen Verbrecher, der noch dazu fehlgeschlagen ist? Danach, Jona, erst danach, habe ich sie wirklich gehasst, diese Lübecker."
Er schweigt einen Moment und versucht, die schlimmen Erinnerungen wieder halbwegs aus dem Kopf zu bekommen. "Ich höre jetzt auf", sagt er dann leise, "denn ich fürchte, du wirst mich nie verstehen. Aber umgekehrt, Jona, bitte, hilf mir wenigstens, dich zu verstehen! Sag es mir: Was habe ich dir getan? Außer, dich in die Welt zu setzen? Bist du mir dafür so böse? Hasst du dich selbst denn so sehr, dass es in deinen Augen ein Verbrechen war, dich entstehen zu lassen?"