Lux hockt in der Ecke, zieht die Beine eng an den Körper und schlingt die Arme darum. Sie legt den Kopf auf ihre Knie und schmollt. Der Boss hat sie vor allen anderen Mitarbeitern getadelt, das muss man sich vorstellen! Er, der nie über einen mittelmäßigen Fotografen hinauskommen wird, von Kunst keine Ahnung hat und überhaupt nichts weiter ist als ein simpler Mensch! So einer erlaubt sich einen Kommentar über sie, die Halbdämonin (gut, das weiß er nicht) und über ihre fotografischen Kunstwerke? Dass die einzigartig sind, das sollte er aber wissen! Lux hat sagenhafte Fotos hinbekommen, spektakuläre Nahaufnahmen von Flammen. Sie kann eben viel näher an ein Feuer herangehen als jeder normale Mensch. Aber der Chef hat ihre Leistung nicht gewürdigt, sondern ihr unterstellt, die Bilder gefälscht zu haben, mit irgendwelchen Computertricks. Darüber kann sie ja nur lachen! Wie soll man bitteschön so etwas hinkriegen, mit den äußerst bescheidenen technischen Mitteln der Menschen? Überhaupt ist dieser ganze Laden hier so miserabel ausgestattet, es macht echt keinen Spaß, hier zu arbeiten.
Ja, als sie noch bei Zanrelot angestellt war, das war etwas anderes! Mit einer magischen Kamera kann man eben ganz andere Sachen machen als mit diesem Spielzeug hier. Das war künstlerische Arbeit, die echt was bewirkt hat! Zum Beispiel, dass eine ganze Stadt ihr Lachen verlor. Beinahe hätten sie auch noch das Finale hingekriegt, das große Erdbeben, wenn diese dummen Gören nicht dazwischen gefunkt hätten. Banausen eben, genau wie ihr neuer Chef. Es hätte so ein Event werden sollen! Sie hatte im Kopf schon Plakate entworfen: "Lübeck bebt". Oder doch mit ein paar Zusatzeffekten von ihr, als Überraschungsgeschenk für Zanrelot: "Lübeck in Flammen"? Aber ihr ganzer Traum wurde zunichte gemacht; diese vier kleinen Ratten schickten sie unverrichteter Dinge postwendend in die Unterwelt zurück, wo sie nun Zanrelot natürlich nichts Rechtes zu bieten hatte.
Er hat sie nicht bestraft. Das wäre ja noch erträglich gewesen. Nein, er war einfach nur enttäuscht, vollkommen resigniert, - und dieser Blick, das war das Schlimmste, was ihr passieren konnte! Sie ist davor weggelaufen. Er musste ihr nicht kündigen, vielleicht hätte er es nicht einmal getan. Aber sie hat es nicht ausgehalten.
Im Nachhinein ärgert sie sich über sich selbst. Wieder einmal hat sie spontan überreagiert und sich selbst in die Klemme manövriert. Denn nun sitzt sie hier fest, in der Welt der Menschen, in diesem mittelmäßigen Fotoshop. Sie vergeudet ihr Talent an einen Boss, der diesen Namen nicht verdient und verkümmert langsam, aber sicher. Und dafür nun noch dieser Undank!
Sie schaut sich um. Es ist Nacht, sie ist allein im dunklen Laden. Nur von draußen scheint das Licht der Straßenlaterne hinein. Im Dämmerlicht betrachtet sie die herumstehenden Apparate. Wie stolz diese Leute darauf sind, auf dieses zweitklassige, technische Gerümpel! Wie sehr das alles Lux anwidert, die minderwertigen Geräte, die minderbemittelten Menschen!
Langsam steht sie auf. Wieder einmal hat sie einen spontanen Entschluss gefasst, und diesmal soll er sie den umgekehrten Weg führen: raus aus dem Schlamassel, zurück in die Welt, wo sie hingehört! In die Unterwelt, zu ihresgleichen. Zu Zanrelot! Sie wird ihn fragen, ob er sie wieder aufnimmt. Doch vorher hat sie noch etwas zu erledigen. "Lübeck in Flammen" hat man ihr vermasselt, aber ein letztes, kleines Kunstwerk muss sein. Sie erhebt die Hände und konzentriert sich, bis das Feuer in ihren Augen zu leuchten beginnt. Dann spricht sie gebieterisch:
"Tibi supplico, Isis! Mihi veniat Ignis!"
Nachdem sie auf diese Weise die Alte Herrin der Magie, Isis, beschworen und das Feuer herbeigerufen hat, lenkt sie durch einen gezielten Zauberspruch das Verderben auf sein konkretes Ziel:
"Zische, züngle und der Plunder
brennen soll wie trockner Zunder!"
Während der kleine Fotoladen hinter ihr in lodernde Flammen aufgeht, schreitet Lux durch die Straßen von Lübeck davon und dreht sich nicht noch einmal um. Dieses Kapitel ihres Lebens ist endgültig abgeschlossen. Sie hört noch das Heulen der Feuerwehrautos hinter sich, als sie zu dem alten Brunnen geht, und sie weiß, dass deren Einsatz sinnlos sein wird. Morgen wird wieder etwas von einem unbekannten Brennstoff in der Zeitung zu lesen sein, der sich nicht bekämpfen ließ. Die Flammen werden erst erlöschen, wenn dieser Laden in Schutt und Asche gelegt ist. Wunderbarer Weise werden sie auf kein anderes Gebäude übergreifen, nicht ein einziger Funke wird überspringen. Das Feuer wird von selbst verglimmen, sobald sein Werk getan ist. Und wieder einmal wird der Ladeninhaber ein wahres Kunstwerk nicht zu schätzen wissen.
Lux lässt sich durch den Brunnen hinab in die Unterwelt. Sie ist fest entschlossen, alles zu tun, damit Zanrelot sie zurücknimmt. Denn er ist ihr Leben, das hat sie endgültig erkannt. Sie wird sich, bei all ihrem Stolz, nicht einmal zu schade sein, sich vor ihm in den Staub zu werfen, wenn nötig. Immerhin war es ihr Fehler, dass sie gegangen ist, nicht seiner. Sie will diese zweite Chance, und er kann sich ihrer ewigen Dankbarkeit sicher sein!
Doch die Welt, die ihr einst so vertraut war, wirkt seltsam fremd. Die Gänge sind so leer, wie tot! Kein einziger der Zanreloten begegnet ihr, die Beleuchtung ist auch ausgefallen, so dass sie sich mit Feuer den Weg erhellen muss. Die Spinnweben, die hier schon immer zahlreich waren, sind beinahe undurchdringlich geworden. Unheimlich hallt ihre Stimme, als sie nach dem Meister und nach Matreus ruft. Keine Antwort, außer ihrem eigenen Echo. Ihr Herz beginnt zu rasen. In Panik rennt sie die verwinkelten Gänge entlang, bis sie die Zentrale erreicht. Sie reißt die Tür auf - und steht in einem leeren Raum!
Da ist nichts mehr, außer dem völlig verstaubten Modell von Lübeck. Das ganze Computerterminal ist weg, das Auge der Welt, der Eiswürfelautomat, einfach alles! Was ist hier nur vorgefallen? Hat man den Herrn der Unterwelt und alle seine Diener - umgebracht? Sein Reich geschändet, seine Schätze geraubt? Lux bricht verzweifelt schluchzend zusammen. Sie wird sich in alle Ewigkeit niemals verzeihen, dass sie nicht hier war, als es geschah! Dass sie es nicht verhindert hat, dass sie es nicht einmal mitgekriegt hat. All diese Zeit die sie sinnlos da oben vergeudet hat und jede Nacht nur von ihrem wahren Herrn geträumt hat, während er schon nicht mehr existierte! Sie wünscht sich in diesem Moment nichts so sehr wie Sterblichkeit, als eine Hoffnung, diese Trauer je wieder loszuwerden.
Sie schreit ihren unaussprechlichen Kummer hinaus und hört ihn schaurig von den Wänden widerhallen. Kauert sich ganz klein auf dem Boden zusammen, mit zuckenden Schultern. Doch plötzlich ist ihr, als wenn sie eine Stimme hört, ganz leise, wie von weit her und doch ganz nah... "Ich lebe! Der Meister lebt!" War das nur Einbildung? War das denn nicht Matreus' Stimme? Doch es ist weit und breit niemand zu sehen, sie ist allein. Die Stimme kehrt nicht wieder. Und doch... sie glaubt die Präsenz eines anderen Wesen zu spüren. "Matreus?" flüstert sie unter Tränen, "Matreus, wenn du da bist,... wenn du irgendwo bist, vielleicht in einer anderen Dimension... Sprich zu mir bitte! Versuch es! Ich habe dich wahrgenommen, du bist nicht verloren! Hilf mir, damit ich euch helfen kann!"