Zanrelot hat längst jegliches Zeitgefühl verloren. Er befindet sich eine gefühlte Ewigkeit lang in der Ausnüchterung, und inzwischen hat sie auch recht gründlich ihre Wirkung getan. Sein Gesicht ist von dem namenlosen Entsetzen starr wie eine Maske geworden. Sein Inneres ist wie vereist, das schützt vor dem Schmerz. Ganz tief in ihm glüht noch eine kleine Flamme, doch sie ist winzig und hat sich sehr weit zurückgezogen und hinter dem dicken Eispanzer versteckt. Der Schwarze Abt betrachtet seinen Schüler und befindet, dass das Werk gelungen ist. Er löst den Zauber.
Als die enge Umklammerung der imaginären Wände plötzlich wegfällt, verliert Zanrelot das Gleichgewicht und stürzt dem Abt vor die Füße. Er fühlt sich gedemütigt und hat das dringende Bedürfnis, dieser erniedrigenden Körperhaltung, sowie den Stimmen zu entkommen, die ihm gesagt haben, wie wertlos er ist. Rasch stützt er sich auf seine Arme und richtet erst einmal den Oberkörper auf. Die plötzlich wieder vorhandenen Sinneseindrücke überfluten ihn und verursachen ein starkes Schwindelgefühl. Fatalerweise hat er ein umso größeres Bedürfnis nach Stärke, je ohnmächtiger er sich fühlt, und einen wachsenden Drang, den Stimmen das Gegenteil zu beweisen, je mehr sie ihn für wertlos erklären. Leider glaubt er ihnen nämlich - und umso trotziger will er sich nach außen hin als der Größte präsentieren. Mit einem Ruck kommt er auf die Füße, obwohl sein Kreislauf heftig rebelliert. Er blickt dem Abt direkt in die Augen, obwohl er ihn noch gar nicht richtig wahrnimmt.
Der Abt erwidert seinen Blick völlig ungerührt. "Nun, Zanrelot", fragt er ruhig, "bist du wieder brauchbar?" Zanrelot nickt nur. Er merkt, dass er die Zähne fest aufeinander gebissen und die Fäuste geballt hat. Bereit, zuzuschlagen, zuzubeißen, wer auch immer ihn angreifen könnte! Er empfindet einen unbestimmten Hass auf alles und jeden, doch es ist nicht die Sorte, die heiß in einem lodert, sondern eine eiskalte Wut.
Langsam pendeln sich sein Kreislauf und sein Gleichgewichtssinn wieder ein. Er nimmt die Welt wieder mit allen Sinnen wahr, und doch wirkt sie irgendwie weit weg. Er fühlt sich immer noch isoliert und hat nicht das Gefühl, dazu zu gehören. Gleichmütig beobachtet er den Abt, der zu der magischen Kugel auf seinem Tisch hinüber schreitet. Es ist eine Kugel von derselben Art, wie Zanrelot sie zur Beobachtung der Oberwelt verwendete, als es noch keine Computer gab. "Du hast lange gebraucht", beschwert sich der Abt, "ich habe daher nicht die ganze Zeit vor dir herumgestanden, sondern habe zwischendurch die Oberwelt inspiziert. Und ich habe etwas Interessantes gefunden..." Er wedelt mit einer Handbewegung den Nebel weg, der die Kristallkugel ausfüllt. Zwei Personen erscheinen in der Kugel und der Abt sieht seinen Schüler erwartungsvoll und mit einem grausamen Funkeln in den Augen an. Doch Zanrelot schaut gar nicht richtig hin und quittiert die beiden nur mit einem Achselzucken. Sie sind ihm egal, wer immer sie sind; es sei denn, sie kommen ihm irgendwie in die Quere, dann gehören sie vernichtet.
"Siehst du denn nicht, was sie tun?" fragt der Abt scharf. Zanrelot schaut für einen kurzen Moment genauer hin, nur um sich dann angewidert wieder abzuwenden. Die liegen in inniger Umarmung da und schlafen, man kann sich leicht ausmalen, was vorher geschehen ist. Es ist einfach nur übelkeiterregend. Er muss sich das wirklich nicht antun. "Ich sehe es", antwortet er uninteressiert. Der Abt bleckt seine morschen Zähne. "Siehst du denn nicht, WER sie sind?"
Zanrelot zwingt sich, noch einmal genauer hinzusehen - und ruft überrascht aus: "Jona!" "Ja, Jona und Amalie." Bei Jonas Anblick hat sich das kleine Flämmchen in Zanrelots Innerstem kurz geregt, doch eine Welle kalter Wut hat es fast erstickt und in sein Versteck zurückgezwungen. "Diese Unwürdigen!" zischt er eisig. "Wie wahr", stimmt der Abt ihm zu, "was meinst du, soll ich sie auch einer Gefühlsausnüchterung unterziehen?" Die Flamme in Zanrelot lodert kurz auf. "Nein!" ruft er entsetzt aus. Nicht Jona, nicht zur Gefühlsausnüchterung! Der Abt stößt einen verärgerten Laut aus. "Ich hätte dich doch länger drinnen lassen müssen", murmelt er. Doch er legt den Zauber nicht noch einmal auf seinen Schüler, sondern mustert ihn bloß verächtlich und flüstert: "Schwächling!"
"Werdet Ihr meinen Sohn bestrafen, Meister?" fragt Zanrelot leise. Doch der lächelt auf eine geheimnisvolle Art und erwidert: "Nein. Es ist zwar kein schöner Anblick, aber manchmal kann aus etwas grässlich Gutem doch noch ein Nutzen für das Böse erwachsen." "Ihr sprecht in Rätseln, Meister." "Dein Jona an sich interessiert mich nicht, er ist ein reichlich unbrauchbarer Nachkomme. Was nicht heißt, dass er nicht doch noch nützlich werden könnte... Frage nicht mich, Zanrelot, frage die Zeit! Ich weiß, damit hast du es nicht so. Doch hier ist Geduld gefragt, auch wenn sie nicht deine Stärke ist." Zanrelot schweigt. Er weiß, dass es keinen Sinn hat, weiter zu fragen, wenn sein Lehrer so redet. Zu sehr genießt der es, mehr zu wissen, als sein Schüler und ihn seine Unfähigkeit in gewissen Bereichen der Magie spüren zu lassen.
Eine Spinne marschiert über den Schreibtisch des Abtes und er zerdrückt sie langsam und genüsslich mit dem Daumennagel, ohne Zanrelot aus den Augen zu lassen. Der zeigt keinerlei Reaktion. "Gut", stellt der Abt zufrieden fest, "die Therapie war doch weitgehend erfolgreich. Ich erinnere mich, wie zimperlich du als Kind warst." Er weiß, dass Zanrelot Spinnen mag. Früher hätte er protestiert. "Gut, gut, gut", murmelt der Abt, "ich kann dich wohl bald in die Welt hinaus entlassen, du bist ihr wieder feindlich genug."